
Man kann zweifelsfrei sagen, dass Alison Goldfrapp die Messlatte für den britischen
Synthie-Pop des 21. Jahrhunderts ziemlich hoch gelegt hat – und dabei hatte sie
gerade erst angefangen. Die insgesamt sieben Alben der aus London stammenden
Singer-/Songwriterin und Produzentin, die sie unter Goldfrapp veröffentlicht hat,
waren geprägt von unfehlbarer Modernität und einem sechsten Sinn für einen Sound,
der zeitloser ist als jeder Trend. Mit der Veröffentlichung ihres ersten Solo-Albums
„The Love Invention“ – einer elektrisierenden Dance-Pop-Suite – erreicht ihre
einzigartig facettenreiche Musikalität einen völlig neuen Höhepunkt. „Es fühlt sich wie
eine neue Zeit, ja, wie eine neue Ära an“, erklärt Alison bestimmt in ihrem Heimstudio
in London. „Ich fühle mich sehr stark.“
„The Love Invention“ repräsentiert auf denkbar eindrucksvolle Weise Alisons
Wiederauferstehung als Dancefloor-Priesterin. Es ist ein wahrhaft berauschendes
Werk voller Disco- und House-Einflüsse, die im Grunde schon immer das Herzstück
ihrer musikalischen DNA gewesen sind. Mit ihrem hymnischen House-Beat, den
Disco-Handclaps und Alisons verführerischem Gesang, mit dem sie die Verzückung
nächtlicher Epiphanien heraufbeschwört, versprüht die Leadsingle „So Hard So Hot“
die flüchtigen Freuden des Dancefloors: „Do you know how the stars were made /
Yeah you know how to radiate.“ „Ich wollte etwas machen, das einen sehr clubbigen
Vibe rüberbringt“, erzählt Alison. „Aber ich wollte gleichzeitig auch, dass der Refrain
eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlt – in dem Song gibt es also sowohl Spannung als
auch euphorische Freiheit.“
Wie bei Alisons meisten Werken verbirgt sich ein tieferer Sinn hinter der brodelnden
Sinnlichkeit. „Es ist ein Kommentar zum Klima, hat aber gleichzeitig auch noch eine
sexuelle Konnotation“, sagt sie und fügt erklärend hinzu, dass „So Hard So Hot“ in
der britischen Hitzewelle des Sommers 2022 aufgenommen wurde. „Auf einmal hatten
wir diese eine treffende Zeile – es war irgendwie abstoßend und brillant zugleich. Ein
großartiges Gefühl, der Refrain ist mir sprichwörtlich quasi aus dem Mund geflogen.“
Im Vorfeld der Veröffentlichung von „The Love Invention“ präsentiert Alison die
verführerische Welt ihres Albums mit einer Reihe von Songs, die aus Kollaborationen
hervorgegangen sind – darunter „Digging Deeper“ mit Claptone oder auch „Fever“
aus der Kollabo mit Paul Woolfords. „Bei diesem Album wollte ich unbedingt, dass die
Kollaborationen nicht nur irgendwie ein nachträglicher Teil des Prozesses sind“, sagt
Alison. „Ich wollte, dass sie ein fester Bestandteil des Albums und dessen sind, was
wir tun. Sie fühlen sich sehr wichtig für mich an.“
Eine nicht verhandelbare Unabhängigkeit zieht sich durch „The Love Invention“ – ein
Ethos, das für Alisons kreativen Prozess unerlässlich war. Der Impuls, sich auf
Solopfade zu begeben, wurde 2021 gefestigt, als Röyksopp mit der Bitte an sie
herantrat, an zwei Tracks für ihr siebtes Album „Profound Mysteries“ mitzuwirken, was
in dem hell schimmernden Track „Impossible“ gipfelte.
Konfrontiert mit den Herausforderungen, die mit sozialer Isolation einhergingen,
begann Alison sich ein Studio in ihrem Haus im Osten Londons einzurichten. Nach
anfänglichen Schwierigkeiten, sich auf das isolierte Arbeiten einzulassen, habe sie es
wirklich genossen, offenbart die Künstlerin, vor allem, weil das Homestudio zu einem
Raum für die fantastischen Träumereien wurde, die „The Love Invention“ antreiben.
„Ich stelle mir oft vor, dass ich mich in einem riesigen Raum befinde, in dem es immer
sonnig ist und der Himmel riesig ist“, sagt sie leicht verträumt. „Ich bin nicht in diesem
Raum, wenn ich in diesem Raum bin. Es ist das Portal.“
Eigenständiges Arbeiten wurde für Alison schnell zur zweiten Natur. „Es war mir
wirklich wichtig, unabhängiger zu arbeiten“, sagt sie. „Ich richtete dieses Studio mit
einer ganzen Menge Equipment ein, und das hat mich in den richtigen Groove
gebracht. Dort zusammen nur mit meinem Tontechniker zu sein, ermöglichte es mir,
mich auf eine Art und Weise hinzugeben, wie ich es vorher nicht getan hatte. Ich liebe
es, Gesang mit vielen Harmonien zu hören – stapelweise Gesang – das war großartig.
Auf dem Album ist nur meine Stimme zu hören; das ist eine Menge Arbeit.“
Alisons hingebungsvolle Herangehensweise, innovativen Pop zu kreieren, hat sie zu
einer der wenigen Künstlerinnen gemacht, die vom Mainstream angenommen wurde,
ohne, dass sie dafür auch nur ein Quäntchen ihrer Individualität aufgeben musste.
Goldfrapp erklomm die Charts, erreichten Mehrfach-Platinstatus, absolvierten
unvergessliche Glastonbury-Auftritte, erhielten Brit- und Grammy-Nominierungen
und einen Ivor Novello für „Strict Machine“. Mit dem Aufstieg ihres Sterns wuchs
auch Alisons künstlerisches Gespür: Unter ihrer Leitung entstand so beispielsweise
das beeindruckende Artwork für das Goldfrapp-Album „Silver Eye“ aus dem Jahr
2017. Darüber hinaus lieferte das Duo den Soundtrack für die von der Kritik gefeierten
Filme „My Summer of Love“ und „Nowhere Boy“. Wie auch ihr Held Prince, an den sie
als Kunststudentin Fanbriefe geschrieben hatte, hat Alison den Pop immer als
Spielwiese für extravagante Performances und absoluten Selbstausdruck gesehen.
Goldfrapps zeitlose Hits beschäftigten sich mit der Erforschung der menschlichen
Sinnlichkeit in einem technologischen Zeitalter, funktionierten gleichzeitig aber auch
als Dance-Pop-Knaller in großen Stadien. In „Strict Machine“ und „Ooh La La“
nahm Alison auf höchst raffinierte Weise weibliche Stereotypen aufs Korn, indem sie
eine cyborgartige Figur verkörperte, die man mit per Knopfdruck ein- und ausschalten
konnte. Während Alisons Solomusik entscheidend die Geburt ihrer unabhängigen
künstlerischen Identität markiert, werden auch treue Fans von Goldfrapp-Klassikern
wie „Black Cherry“ und „Supernature“ auf ihre Kosten kommen und vor allem den im
Überfluss vorhandenen Disco-Gestus von „The Love Invention“ lieben, der von
Alisons vertiefter, langjähriger Faszination für die Polaritäten Vergnügen vs.
Zurückhaltung und ‚(Wo)Man vs. Machine‘ durchzogen ist. Und obgleich die heiklen
Themen bleiben, so werden sie hier mit einer neuen, weltklugen Komplexität und einer
Portion Humor angegangen. In dem träumerischen und doch ahnungsvollen
„Subterfuge“ zerschneidet Alison die mit Loops versehenen Gesangsspuren, um
eine texturale, rhythmische Palette zu schaffen. „Ich habe viel mit synthetischen
Klängen herumgespielt“, sagt sie. „Ich habe es schon immer geliebt, mit den
roboterhaften Sounds in meinen Vocals zu spielen, aber nun fühlte es sich so an, als
würde ich noch einen Gang höher schalten.“ Und so ist „SLoFLo“ zu einem der
vielleicht schönsten Songs geworden, die je ihren Namen trugen – eine sinnliche
Meditation über die Umarmung der kommenden Lebensabschnitte, in der Alisons
Stimme von einem geradezu himmlisch anmutenden Kokon aus Synthesizern umhüllt
wird.
In der für Alisons typischen komplexen Art und Weise sind die Momente der
schonungslosen Aufrichtigkeit auf „The Love Invention“ mit einem teuflischen Sinn
für Spaß gepaart. Die balearischen Synthesizer und ein mitreißender Punch-the-Air-
Refrain von „Love Invention (Dr. What?)“ fangen Alison im selbstvergessenen
Taumel des Vergnügens ein, indem sie sich spielerisch eine „Maschine oder Pille
vorstellt, die dir ein Gefühl der völligen Euphorie verschafft“. Es kommt auch mit einem
Augenzwinkern auf die Post-Goop-Wellness-Kultur daher, die unsere bisherige
Zeitrechnung gehörig durcheinanderwirbelt. „Ich finde die Idee der permanenten
Selbstverbesserung eigentlich witzig“, sagt Alison. „Ich bin etwas zynisch, aber auch
fasziniert davon. Es ist ein bisschen Sci-Fi, beängstigend und dystopisch.“
„Ich hege ein großes Interesse an unserer Besessenheit von Lust und Begehren und
wie sich das mit zunehmendem Alter verändert“, sagt Alison. „Wir glauben, dass nur
junge Menschen Lust empfinden, aber wir leben in einer Welt, in der es mittlerweile
viel mehr ältere Menschen gibt – und das Bedürfnis nach Lust verschwindet nicht, nur
weil man älter ist. Ich bin eine Frau in einem bestimmten Alter, und ich habe das
Gefühl, es wird uns vermittelt, dass wir nicht über solche Dinge sprechen sollten.“
Außerdem fühlt es sich gut an, die Erwartungen zu übertreffen. „Es macht auch
einfach Spaß“, fährt sie mit einem Zwinkern fort. „Ich finde, es spricht viel für puren,
unverfälschten Spaß.“
Alison war noch nie der Typ, der sich blindlings irgendwelchen Trends unterwirft. Als
Teenager hatte sie nichts übrig für den Snobismus der „Disco Sucks“-Bewegung, die
sich über die Radio-Invasion von Sylvester, Donna Summer und Chic beklagte. „Als
ich ein Teenager war, war es alles andere als ‚cool‘, diese Art von Musik zu mögen“,
erinnert sie sich. „Aber ich war wirklich begeistert.“ Zu Recht erkannte sie das volle
Ausmaß der Genialität des Genres Disco in dem kantigen Post-Punk, der die 80er
Jahre prägte und von Bands wie den Talking Heads verkörpert wurde. „Ich liebe die
mantraartigen Beats von David Byrne“, erzählt sie. „‚Once In A Lifetime‘ ist einer
meiner absoluten Lieblingssongs. Es stellte das Menschsein in Frage – eine
ungeheuer wichtige Sache. Und dann natürlich der von mir heiß geliebte Disco-Sound,
das ist mir wirklich im Gedächtnis geblieben.“
„Da ist etwas an diesem Genre, das etwas sehr Tiefgreifendes hat“, fügt Alison hinzu.
„Und es ist auch etwas sehr Grundlegendes daran, tanzen zu wollen. Wenn diese
beiden Dinge zusammen funktionieren, ist das für mich Perfektion.“ Das Gefühl der
hemmungslosen Befreiung zieht sich durch Album-Highlights wie „In Electric Blue“,
ein sehnsuchtsvolles Synth-Pop-Konfekt mit einem Refrain, der so selig ist wie die
ersten Schmetterlinge der Liebe. „Er erinnert mich an glänzende Autos und diesen
Rausch von Energie – diesem Hochgefühl, das man als Teenager hat“, erklärt Alison.
Währenddessen wird sie bei dem Song „Never Stop“, der mit einem beschwingten,
gummi-artigen Beat daherkommt, von einer Welle allumfassender Liebe überflutet;
der erhabene Synthie-Pop von „Fever“ mit einem Refrain, der explodiert, als würde
er eine Glitzerkanone zünden, ist eine Ode an die berauschende Majestät des
Dancefloors. Am eindringlichsten von allem ist jedoch vermutlich das
atemberaubende Albumcover von „The Love Invention“, das in Zusammenarbeit mit
Mat Maitland von Big Active entstanden ist und auf dem Alison von einem
kaleidoskopischen Regenbogen aus surrealen Formen umgeben ist. „Ich wollte, dass
es wirklich farbenfroh und lebendig ist“, sagt Alison über die Covergestaltung, „es ist
eine fantastische Version von mir.“
Bei „The Love Invention“ arbeitete Alison mit dem Produktions-Genie Richard X
(Pet Shop Boys, Róisín Murphy), James Greenwood (Daniel Avery, Kelly Lee Owens)
und Toby Scott (The Gossip, Annie) zusammen. „Ich bin so etwas wie ein Schwamm
und in gewisser Weise eine Elster“, beschreibt sich Alison selbst. „Die Energie einer
Person im Raum hat einen großen Einfluss auf mich und die Art, wie ich auf Dinge
reagiere. Ich liebe es, Neues zu hören – neue Energie, neue Klänge, neue
Denkweisen. Ich möchte wachsen und mich ständig weiterentwickeln und immer
wieder neue Dinge ausprobieren. Dafür muss man mit Menschen zusammen sein.“
Dennoch ist „The Love Invention“ unverkennbar das Werk von Alison Goldfrapp
als Pop-Autorin – es ist ein schillerndes Schaufenster ihrer gereiften Musikalität sowie
ihrer unermüdlichen Neugier auf Neues. Auf dem Album-Highlight „The Beat Divine“,
einem sinnlichen Stück After-Dark-Disco, klingt sie so vernarrt in die Macht der Musik,
Menschen zusammenzubringen wie nie zuvor. „You’re the music, sensual elevation“,
singt sie, als sei sie in der lebensbejahenden Magie der Tanzfläche verloren. „Du bist
die astrale Einladung.“ „Ich wollte die Macht der Musik und des Vergnügens feiern,
und diese andere Kraft, die in dir steckt“, erklärt Alison. „Es geht um den Wunsch,
diese Freiheit zu spüren, von der ich nicht weiß, ob ich sie schon einmal ausgedrückt
habe.“ Auf „The Love Invention“ klingt sie glorreicher und befreiter denn je.
Owen Myers
Quelle: Skint Records
Dieses Album ist ab dem 12.05.2023 in allen bekannten Onlineshops erhältlich!
Airdate (für Radiosender): 12.05.2023